Tom Otte

Arbeiten, bis der Arzt kommt?

Arbeiten, bis der Arzt kommt?

Wer kennt sie nicht, die neuen Steuerungsmodelle, die Zielvereinbarungen, die betriebsinternen Benchmarks oder die leistungsbezogene Vergütung? Mit Hilfe dieser Management-Systeme ist es gelungen, die Leistungsmoral von Selbstständigen und Freiberuflern in die Betriebe zu überführen. Je mehr wir lernen, unsere eigene Arbeit am geschäftlichen Erfolg zu messen, desto mehr kämpfen wir auch mit einem neuen Phänomen: der interessierten Selbstgefährdung.

Gemeint ist ein Verhalten, wo wir ungerührt mit unserer Arbeitsweise unsere Gesundheit gefährden. Um an Ziele zu gelangen, gehen wir über Leichen – vor allem über unsere eigene. Wir missachten die eigene Gesundheit, um Erfolge wie geplant zu erreichen. Wir gehen krank zur Arbeit, wir verzichten auf Pausen, wir arbeiten länger und härter. Uns selbst gegenüber verhalten wir uns brutal und rücksichtslos. Gleichzeitig schlagen wir alle Angebote zur Verhaltensprävention in den Wind. So verzichten wir auf jedwedes Zeitmanagement und auf Stressprävention, wir ernähren uns nicht gesünder, wir treiben keineswegs mehr Sport.

Was verursacht diesen Anstieg kontraproduktiver Verhaltensweisen? Es liegt vor allem an der marktkonformen Dynamisierung von Unternehmen. Eine Führung aller Mitarbeiter durch Zielvorgaben, bei gleichzeitiger Konfrontation mit unternehmerischen Herausforderungen unter Rahmenbedingen des Wettbewerbs, führt zu einer „Vermarktlichung der Arbeitswelt“.

Neben der fachlichen Qualität ihrer Arbeit achten Angestellte nun selbst darauf, ob sich die eigene Leistung für das Unternehmen auch rentiert. Da eine Führung durch Ziele häufig Handlungs- und Entscheidungsspielräume erlaubt, können Beschäftigte mehr oder weniger selbstständig „am Markt“ agieren.

Ob es dabei um das Erreichen von Fallzahlen bei Klinikmedizinern oder um den Verzicht auf Betten in der Intensivstation geht – der Angestellte hat plötzlich zwei Seelen in der Brust: diejenige des Unternehmers neben der des Arbeitnehmers. Leistungsschwächere und Erkrankte im Team sind nicht länger gern gesehen, der Druck steigt auch unter den Kollegen und Teammitgliedern. Somit auch die Bereitschaft von Beschäftigten, ihre eigenen Grenzen zu überschreiten.

Einen Königsweg zurück gibt es wohl nicht, die neuen Managementkonzepte sind erfolgreich und nachgewiesenermaßen produktivitätssteigernd. Es gilt daher, die Frage nach unerwünschten Nebenwirkungen in den Blick zu nehmen. Denn insbesondere die psychischen Erkrankungen steigen von Jahr zu Jahr, was die Zahl berufsbedingter Depressionen und ‚Burn-Outs‘ explodieren lässt.

Was wäre zu tun? Hier gilt zunächst – die klare Diagnose ist bereits die halbe Lösung. Wirksame Prävention hängt davon ab, dass möglichst alle im Unternehmen den Zusammenhang zwischen neuen Steuerungsformen und psychischen Belastungen erfasst haben.

Im Einzelnen:

Prüfen, ob das Phänomen der interessierten Selbstgefährdung im Betrieb überhaupt relevant ist.

  • Top down einen Diskussionsprozess initiieren, das heißt mit Rückendeckung von oben: Was macht das mit uns, was bedeutet das …?
  • Organisationsentwicklungsprozesse einleiten, mit dem Ziel: Minimierung interner Stolperfallen, wie z. B. übertriebene Dokumentation, zu enge Vorgaben oder Erweiterung von Entscheidungs- und Handlungsspielräumen
  • Frühwarnsysteme einrichten: Befragungen durchführen, MA-Beirat einsetzen …
  • Mitarbeiterorientierung und Gesundheitsfragen ins betriebliche Kennzahlensystem aufnehmen …

Mehr dazu: http://www.baua.de/de/Publikationen/Fachbeitraege/Gd76.pdf?__blob=publicationFile&v=5

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