Tom Otte

Was aber ist Gerechtigkeit?

Was aber ist Gerechtigkeit?

Bei dem Wort ‚Gerechtigkeit‘ liegt der Maßstab im Hirn des Betrachters. FDP und CDU meinen, das es ‚gerecht‘ sei, den Mittelstand steuerlich zu entlasten, wobei sie unter ‘Mittelstand‘ ganz andere gesellschaftliche Regionen im Blick haben als der ‚mittelständische Normalbürger‘, der sich aus unerfindlichen Gründen stets zu diesen ‚happy few‘ zählt. Die SPD und die Linken meinen, dass es ‚gerecht‘ sei, die Bezieher kleiner Einkommen besser zu stellen. Die staatstreuen Grünen fänden es ‚gerecht‘, wenn wieder mehr in die Zukunft investiert würde, also vor allem in Bildung und Infrastruktur. Die AfD hingegen fände es gerecht, wenn nur noch ‚Bio-Deutsche‘ privilegiert würden. Der Begriff der ‚Gerechtigkeit‘ schillert also in allen Parteifarben. Gemeinsam ist all diesen Sichtweisen aber, dass sie heute vor allem auf die ‚Verteilungsgerechtigkeit‘ fokussieren, also auf die bekannte ‚Schere zwischen arm und reich‘.

So materiell aber wurde die Gerechtigkeit keineswegs immer betrachtet. In der Antike war ‚Gerechtigkeit‘ keine Frage des Einkommens, sondern sie folgte aus dem Charakter oder der Tugend (‚virtus‘) eines Individuums. Gerecht war derjenige, der weise Entscheidungen zum Wohle des Vaterlandes traf. Erst wenn er diese Prämisse verletzte, wurde ein Mensch als ‚ungerecht‘ betrachtet, aber nicht, wenn er reich mit Schätzen beladen aus erfolgreichen Feldzügen zurückkehrte.

Spuren dieser Auffassung leben heute noch fort: Als in der Finanzkrise die Banken wankten, war der Reichtum der Besitzer zuvor kaum ein Problem gewesen. Jetzt aber, als sich diese Gruppe als Zocker und ‚Loser‘ entlarvte, wurde die unfassbare Höhe der Boni und Bezüge plötzlich zum Problem. Dass ausgewiesene Nichtskönner so viel Geld einstreichen, dies wurde als ‚ungerecht‘ empfunden. Aus den Bankern wurden die ‚Bankster‘. Nicht deren Gier war das Hauptproblem, sondern deren Unfähigkeit, unter dem Eingeständnis ihrer ‚Schuld‘ endlich Harakiri zu begehen, also moralische Verantwortung zu übernehmen. „Jump!“ stand auf den Plakaten der Demonstranten in der Wall Street.

Das Problem der ‚Gerechtigkeit‘ ist daher immer und hauptsächlich eines der gesellschaftlichen Moral – und weniger eines des Kontostandes. Auch der Utilitarismus – der auf den gesellschaftlichen ‚Nutzen‘ von Individuen setzte – führte diese moralische Argumentationslinie der Gerechtigkeitsdiskussion zu Beginn des Industriezeitalters noch fort. Das ‚größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl‘ lautete hier das Leitbild. Wer also das Gemeinwohl mehrte, der handelte demzufolge auch gerecht. Die ganze Geschichte des Mäzenatentums und der wohltätigen Stiftungen hat hier ihren Ursprung. Auch hier bildet die ‚moralische Vernunft‘ noch den Kern des Handelns.

Von dieser ‚moralischen Vernunft‘ haben wir uns heute weit entfernt. Politische Entscheidungen werden immer häufiger unter dem Einfluss von Lobbyisten und Interessenverbänden getroffen, begleitet vom medialen Trommelfeuer bezahlter Spin-Doktoren. Man könnte überspitzt sagen, dass heute das ‚größtmögliche Glück der kleinstmöglichen Zahl‘ zur Maxime wurde. Das ist das eigentliche Gerechtigkeitsproblem, das unsere Gesellschaft wie ein Flugrost befallen hat. Die ‚Feindschaft gegen die Eliten‘ wie auch der Erfolg populistischer Bewegungen haben hier ihren Ursprung.

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